Meine erste Begegnung mit Joseph Ratzinger kam durch das Buch „Einführung in das Christentum“ zustande. Mein Religionslehrer empfahl es mir in der Oberstufe für ein Referat über den Gottesnamen. Alles, was ich da las, war eindeutig und klar formuliert. Noch heute liegt der kleine Zettel, mit dem ich aus dem Buch referierte, in meiner alten Originalausgabe der „Einführung“. Das Theologiestudium brachte dann die Entwicklung in eine andere Richtung. Unsere Theologieprofessoren redeten nicht gegen Ratzinger, aber sie ignorierten ihn. Ich war skeptisch geworden.
Erst zehn Jahre später, als ich Joseph Ratzinger bei Begegnungen meiner Gemeinschaft mit ihm selber kennen lernen konnte, lichtete sich das Bild und die ersten Eindrücke kehrten zurück. Und ganz neue kamen hinzu.
Ich habe einen immer ganz präsenten und ganz auf den Augenblick einer Aufgabe oder Begegnung konzentrierten Theologen kennengelernt, zugewandt, bescheiden, freundlich; nur in ganz wenigen Momenten waren die Anstrengungen seines Amtes zu erkennen.
Eine falsche Scheu vor ihm, dem Präfekten der Glaubenskongregation und später noch mehr vor Papst Benedikt XVI., dem „Heiligen Vater“, verschwand immer mehr; Joseph Ratzinger selber hat sie einem genommen.
Als ich ihn in den letzten Jahren seines Lebens noch näher kennenlernen durfte, in Diskussionen in einer kleinen Runde, beim Beten, bei der Feier der Eucharistie, hat mich sein unverminderter Wille, der Wahrheit und darin dem anderen Aufmerksamkeit zu schenken, beeindruckt, noch mehr aber eine Heiterkeit, die angesichts der Probleme, die er gesehen hatte und angesichts seiner zunehmenden physischen Gebrechlichkeit, etwas ganz Außergewöhnliches war.
Ich habe mehr und mehr die ganze Bandbreite seiner Theologie studieren können und aus wirklich jedem einzelnen Beitrag Gewinn gezogen, unendlich vieles gelernt, Anregungen zur Predigt, zum Schreiben und Weiterdenken. Wo er innerhalb der Kirche und Theologie Gefahren sah, schrieb er scharf und klipp und klar, fokussiert auf die Sache, die ihn beunruhigte, auf die Wahrheit, die er bedroht sah. Anderes ist ganz vorsichtig, leise formuliert, und man überliest schnell einen Nebensatz, einen Einschub, eine Einschränkung von bereits fest Gesagtem, eine kleine Dialektik. Deswegen bat er in den Jesus-Büchern um den „Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt“.
Faszinierend war, wie er durch Theologie die Kirche leitete, nicht durch Dekrete und Befehle, sondern durch Überzeugen, durch das Werben mit der Wahrheit. „Christus siegt nur durch Überzeugen.“ Dieser Satz von Origenes, den er bei der Aufnahme in die Académie française zitierte, war eines seiner Lieblingsworte. Es war auch die Schrift Israels. Theologie als Auslegung der Schrift.
Der Minister wird Jesus-Jünger und lässt sich taufen. „Nach einer gewissen Zeit“ nimmt der Geist Gottes den Philippus wieder weg. Die Philippus-Episode steht an der Schnittstelle zwischen dem Judentum und den Völkern. Eine Brücke zu Nichtglaubenden, zu Agnostikern, Skeptikern und Suchenden. Gerade Routiniers des Glaubens und Funktionäre der Kirche haben das wenig begriffen und seine Freiheit als Schwäche missverstanden.
Für mich ist Benedikt XVI. ein Kirchenlehrer. Er braucht dazu nicht zur „Ehre der Altäre erhoben“ zu werden. Besser ist, seine Theologie zur Ehre der Schreibtische zu erheben und sie dort zu studieren.
Als er im Februar 2013 seinen Amtsverzicht verkündete, kam mir das Bild aus der Apostelgeschichte in den Sinn, das den Jünger Philippus in Begleitung des äthiopischen Finanzministers zeigt (Apg 8,26-40). Philippus geht eine Zeit lang neben dem Wagen des königlichen Beamten her und erklärt ihm den Weg Jesu, streng ausgehend von der Heiligen Schrift Israels. Theologie als Auslegung der Schrift. Der Minister wird Jesus-Jünger und lässt sich taufen. „Nach einer gewissen Zeit“ nimmt der Geist Gottes den Philippus wieder weg.
Die Philippus-Episode steht an der Schnittstelle zwischen dem Judentum und den Völkern.
Ein letztes großes theologisches Interesse Benedikts XVI. galt dem Verhältnis der Kirche zum Judentum, der Verständigung mit dem jüdischen Erbe, das für ihn zentral für das Verstehen des Christlichen war. Dieses Vermächtnis, das in der Veröffentlichung seines Artikels zum „ungekündigten Bund“ 2018 in der Zeitschrift „Communio“ für jeden zugänglich ist, hat mich und viele, die ihn gut zu kennen meinten, überrascht. Es ist so klar, explizit und mit Nachdruck formuliert, dass wir es nicht ignorieren werden.
Für mich war die Zeit Joseph Ratzingers, aber besonders die Jahre seines Pontifikates, eine Wegstrecke des Aufschließens der Geschichte Gottes mit seinem Volk, wie sie in der Apostelgeschichte erzählt wird. In unserer Zeit. Es war eine Weggemeinschaft für eine „gewisse Zeit“. Ich würde sagen: Ich habe das Glück, sein Zeitgenosse gewesen zu sein.
Achim Buckenmaier (Italien/Vatikan)
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