Anmerkungen zur Diskussion um den Beitrag Joseph Ratzingers/Papst
Benedikt XVI. „Gnade und Berufung ohne Reue“
Nach der Welle reflexartiger Kritik, die über Joseph Ratzingers „Anmerkungen
zu einem Traktat De Iudaeis“ hereingebrochen ist, fragt man sich, warum Kardinal
Koch den emeritierten Papst Benedikt XVI. bewogen hat, diese Skizze zu
publizieren. Der Kardinal hat – zurecht – den provokativen Zündstoff erkannt,
der in diesem Beitrag liegt. Und dies hat eine doppelte Tradition:
Joseph Ratzinger hat stets alle liebgewordenen Slogans in Theologie und Kirche
auf ihren wahren Gehalt abgeklopft. Mit intellektueller Neugier und Leidenschaft
auf der Suche nach Wahrheit überprüfte er immer wieder Parolen, die
von vielen als unantastbare Paradigmen der Theologie angesehen wurden: Befreiungstheologie,
Geist des Konzils, Reform der Kirche usw.
Zum anderen muss man daran erinnern, dass es gerade die letzten Päpste waren
– Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus –, die unter starker Beteiligung
der Päpstlichen Bibelkommission die Lehre von Nostra aetate kreativ
weiterentwickelt haben. Benedikt XVI. zu unterstellen, er öffne die Tür für neuen
kirchlichen Antijudaismus, ist blanker Unfug und basiert auf einer falschen Lektüre
des Textes, der übrigens mit der für die Kirche nie mehr überhörbaren Frage
nach der Shoa beginnt: „Seit Auschwitz ist klar, dass die Kirche die Frage
nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss.“ Manchen macht es
auch ihr offensichtlicher „Vorschuss an Antipathie“ unmöglich, den Text des
emeritierten Papstes, der nicht ohne Feinheiten und Dialektiken ist, zu lesen.
In einigen Passagen geht Benedikt XVI. weit über das hinaus, was heute im
Allgemeinbewusstsein der Katholiken ist, was in Seminaren gelehrt wird und
was vor allem in der Praxis kirchlichen Lebens und täglicher Verkündigung präsent
ist, wo – wenn überhaupt die Schrift auslegt wird – nur die Evangelien Gegenstand
der Homilien sind und die „christliche Bibel“ eben doch nur als das
Neue Testament im Taschenformat verteilt wird. Wo hört man schon so eindeutig,
dass das Neue Testament „nicht in sich selbst“ steht, sondern – so Benedikt
XVI. – „sich durchweg auf das ‚Alte Testament’, die Bibel Israels“ bezieht?
Auch was die Substitutionstheorie angeht, muss man den Artikel genau lesen.
Es mag etwas blauäugig erscheinen, ihre Existenz am Vorkommen in theologischen
Lexika zu messen; aber Joseph Ratzinger bleibt dabei nicht stehen:
„Richtig ist allerdings, dass von Texten wie dem Gleichnis der Weinbergpächter
(Mt 12,1-11) her oder auch des Festmahls (Mt 22,1-14; Lk 14,15-24), zu dem
die Eingeladenen nicht kommen und dann durch andere ersetzt werden, der
Gedanke der Verwerfung Israels die Vorstellung von seiner Funktion in der gegenwärtigen
Heilsgeschichte weitgehend prägte.“ Benedikt XVI. pflegt im wahren
Sinn des Wortes auch hier eine Sprache, die fern ist von
applausheischendem Schwarz-Weiß. Das mag jemandem zu vorsichtig erscheinen;
das meiste, was an seinem Beitrag kritisiert wird, perlt aber hier als
unzutreffend ab.
Der Kern des Beitrages ist sicher: Benedikt XVI. erinnert daran, dass „den Bund
kündigen“ keine Kategorie Gottes ist. Das haben bereits die Exilspropheten in
Klarheit erkannt: Gott „kündigt“ nicht, deswegen kann es auch keine Substitution
von ihm her geben. Ratzinger bleibt in seinem Beitrag ganz auf dem Boden
der konkreten Geschichte und beim Menschen: „Das Geheimnis der Befreiung
und der Freiheit als Geschenk der Erlösung zu erkennen, wird den Menschen
immer wieder schwer, und sie wollen hinter die Befreiung zurück.“ Das allerdings
kann man mit bloßem Auge erkennen. Diese Weise zu denken, scheint
aber vielen Theologen fast nicht nachvollziehbar zu sein. Hier liegt – neben der
mangelnden Wahrnehmung, dass es sich um einen Text ins Innere der Kirche
handelt – der Hauptgrund für das Missverständnis.
Benedikt XVI. geht es erneut so, wie es ihm nach der Rede in Auschwitz widerfahren
war: Er hatte nicht die erwartete Figur der Selbstanklage gewählt, sondern
den radikaleren Schwenk vollzogen und die Frage auf die Folgerungen,
die sich für uns ergeben, gelenkt: „Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken
– wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns (...). Aber unser
Schrei an Gott muss zugleich ein Schrei in unser eigenes Herz hinein sein...“
Dass der Mensch verantwortlich ist – für das Leid, die Verbrechen und auch die
Brüche in der Geschichte mit Gott, ist seine Überzeugung, die er mit den hellsichtigen
und selbstkritischen Glaubenden Israels aller Zeiten teilt.
Noch einmal: Der Beitrag Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. ist nicht ein Dialogtext
mit dem Judentum, sondern zuerst ein Text in die Kirche hinein. Wenn sich
die Christen in der Spur der Erklärung Nostra aetate und ihrer Fortschreibung
durch das Lehramt der Bedeutung des Judentums für das Christentum weiter
klar werden – des historischen wie des gegenwärtigen – und die Aussagen
über Versuchung und Realität der Bundesbrüche vor allem als Sätze für und
über sich selbst verstehen, können die Anmerkungen des emeritierten Papstes
so wirken, wie es Text und Intention des Autors wollen. Die Publizierung seiner
Wortmeldung ist dazu eine Hilfe, die man nicht übersehen sollte.
Prof. Dr. Achim Buckenmaier
Direktor des Lehrstuhls für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen
Lateran-Universität Rom
im Namen des Schülerkreises und des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/
Papst Benedikt XVI.
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