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Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zum Judentum

Aktualisiert: 23. Feb. 2020

Anmerkungen zur Diskussion um den Beitrag Joseph Ratzingers/Papst

Benedikt XVI. „Gnade und Berufung ohne Reue“


Nach der Welle reflexartiger Kritik, die über Joseph Ratzingers „Anmerkungen

zu einem Traktat De Iudaeis“ hereingebrochen ist, fragt man sich, warum Kardinal

Koch den emeritierten Papst Benedikt XVI. bewogen hat, diese Skizze zu

publizieren. Der Kardinal hat – zurecht – den provokativen Zündstoff erkannt,

der in diesem Beitrag liegt. Und dies hat eine doppelte Tradition:

Joseph Ratzinger hat stets alle liebgewordenen Slogans in Theologie und Kirche

auf ihren wahren Gehalt abgeklopft. Mit intellektueller Neugier und Leidenschaft

auf der Suche nach Wahrheit überprüfte er immer wieder Parolen, die

von vielen als unantastbare Paradigmen der Theologie angesehen wurden: Befreiungstheologie,

Geist des Konzils, Reform der Kirche usw.

Zum anderen muss man daran erinnern, dass es gerade die letzten Päpste waren

– Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus –, die unter starker Beteiligung

der Päpstlichen Bibelkommission die Lehre von Nostra aetate kreativ

weiterentwickelt haben. Benedikt XVI. zu unterstellen, er öffne die Tür für neuen

kirchlichen Antijudaismus, ist blanker Unfug und basiert auf einer falschen Lektüre

des Textes, der übrigens mit der für die Kirche nie mehr überhörbaren Frage

nach der Shoa beginnt: „Seit Auschwitz ist klar, dass die Kirche die Frage

nach dem Wesen des Judentums neu bedenken muss.“ Manchen macht es

auch ihr offensichtlicher „Vorschuss an Antipathie“ unmöglich, den Text des

emeritierten Papstes, der nicht ohne Feinheiten und Dialektiken ist, zu lesen.

In einigen Passagen geht Benedikt XVI. weit über das hinaus, was heute im

Allgemeinbewusstsein der Katholiken ist, was in Seminaren gelehrt wird und

was vor allem in der Praxis kirchlichen Lebens und täglicher Verkündigung präsent

ist, wo – wenn überhaupt die Schrift auslegt wird – nur die Evangelien Gegenstand

der Homilien sind und die „christliche Bibel“ eben doch nur als das

Neue Testament im Taschenformat verteilt wird. Wo hört man schon so eindeutig,

dass das Neue Testament „nicht in sich selbst“ steht, sondern – so Benedikt

XVI. – „sich durchweg auf das ‚Alte Testament’, die Bibel Israels“ bezieht?

Auch was die Substitutionstheorie angeht, muss man den Artikel genau lesen.

Es mag etwas blauäugig erscheinen, ihre Existenz am Vorkommen in theologischen

Lexika zu messen; aber Joseph Ratzinger bleibt dabei nicht stehen:

„Richtig ist allerdings, dass von Texten wie dem Gleichnis der Weinbergpächter

(Mt 12,1-11) her oder auch des Festmahls (Mt 22,1-14; Lk 14,15-24), zu dem

die Eingeladenen nicht kommen und dann durch andere ersetzt werden, der

Gedanke der Verwerfung Israels die Vorstellung von seiner Funktion in der gegenwärtigen

Heilsgeschichte weitgehend prägte.“ Benedikt XVI. pflegt im wahren

Sinn des Wortes auch hier eine Sprache, die fern ist von

applausheischendem Schwarz-Weiß. Das mag jemandem zu vorsichtig erscheinen;

das meiste, was an seinem Beitrag kritisiert wird, perlt aber hier als

unzutreffend ab.

Der Kern des Beitrages ist sicher: Benedikt XVI. erinnert daran, dass „den Bund

kündigen“ keine Kategorie Gottes ist. Das haben bereits die Exilspropheten in

Klarheit erkannt: Gott „kündigt“ nicht, deswegen kann es auch keine Substitution

von ihm her geben. Ratzinger bleibt in seinem Beitrag ganz auf dem Boden

der konkreten Geschichte und beim Menschen: „Das Geheimnis der Befreiung

und der Freiheit als Geschenk der Erlösung zu erkennen, wird den Menschen

immer wieder schwer, und sie wollen hinter die Befreiung zurück.“ Das allerdings

kann man mit bloßem Auge erkennen. Diese Weise zu denken, scheint

aber vielen Theologen fast nicht nachvollziehbar zu sein. Hier liegt – neben der

mangelnden Wahrnehmung, dass es sich um einen Text ins Innere der Kirche

handelt – der Hauptgrund für das Missverständnis.

Benedikt XVI. geht es erneut so, wie es ihm nach der Rede in Auschwitz widerfahren

war: Er hatte nicht die erwartete Figur der Selbstanklage gewählt, sondern

den radikaleren Schwenk vollzogen und die Frage auf die Folgerungen,

die sich für uns ergeben, gelenkt: „Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken

– wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns (...). Aber unser

Schrei an Gott muss zugleich ein Schrei in unser eigenes Herz hinein sein...“

Dass der Mensch verantwortlich ist – für das Leid, die Verbrechen und auch die

Brüche in der Geschichte mit Gott, ist seine Überzeugung, die er mit den hellsichtigen

und selbstkritischen Glaubenden Israels aller Zeiten teilt.

Noch einmal: Der Beitrag Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. ist nicht ein Dialogtext

mit dem Judentum, sondern zuerst ein Text in die Kirche hinein. Wenn sich

die Christen in der Spur der Erklärung Nostra aetate und ihrer Fortschreibung

durch das Lehramt der Bedeutung des Judentums für das Christentum weiter

klar werden – des historischen wie des gegenwärtigen – und die Aussagen

über Versuchung und Realität der Bundesbrüche vor allem als Sätze für und

über sich selbst verstehen, können die Anmerkungen des emeritierten Papstes

so wirken, wie es Text und Intention des Autors wollen. Die Publizierung seiner

Wortmeldung ist dazu eine Hilfe, die man nicht übersehen sollte.


Prof. Dr. Achim Buckenmaier

Direktor des Lehrstuhls für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen

Lateran-Universität Rom

im Namen des Schülerkreises und des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/

Papst Benedikt XVI.



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